«Schweizer Familie, Nr. 49, 8. Dezember 2022»

Text Thomas Widmer, Fotos Dominic Steinmann

Über 2500 Mal war er schon auf der Baarburg. Guido Stefani kennt den Zuger Hügel so gut, dass er an kleinen Veränderungen das Verstreichen der Zeit wahrnimmt. Vor der Grösse der Natur verblasst auch ein schlimmes Ereignis.

Guido Stefani beim
Weiler Hirzwangen,
im Hintergrund die
bewaldete Baarburg.

Auf der Baarburg, wie der Hausberg von Baar im Kanton Zug heisst, steht ein Unterstand. Alle paar Tage taucht bei ihm ein Mann auf. Graue Locken, grauer Schnauz, grüne Barbour-jacke, Rucksack, Spazierstock. Der Mann betritt den Unterstand, klaubt einen Bleistift hervor, beugt sich zu einem Balken vor und schreibt, nein, graviert etwas ins weiche Holz. Guido Stefani, der mit seiner Frau Irena in Luzern lebt, besucht die Baarburg seit dreieinhalb Jahrzehnten hartnäckig. Die im Balken eingetieften Striche, einer pro Visite, bezeugen es. Es sind über 2500.

Was um Himmels willen treibt ihn dazu? Ziemlich als Erstes erklärt der 75-jährige Stefani beim Treffen auf dem Berg, dass er nicht von «Wanderungen» oder «Besteigungen» redet. Sondern von «Umgängen». An diesem Novembertag steht Umgang Nr. 2575 an. Guido Stefani besucht wieder einmal die Orte auf dem Berg, die ihm etwas bedeuten. Oder die irgendwie besonders sind. Da ist etwa die turmhohe Eiche, die er liebt und gern berührt; dass Forstarbeiter einen Teil der Krone kappten, schmerzt ihn. Und da ist die niedrige Höhle in der senkrechten Fluh um das Gipfelplateau. Eine Esoterikergruppe hat sie gegraben, mittlerweile ist in ihr auch eine Geocache-Box verstaut. Geocaching, das ist die digitale Form der Schnitzeljagd.

«Der Stock ist ein Sinnesorgan.
Ein Fühler. Er ist meine Verbindung zum Boden. Eine Erdung.»

Guido Stefani

Wie die Begeisterung begann
Guido Stefani wächst in Schwamendingen in Zürich auf. Er studiert Englisch und Germanistik. Seine Dissertation widmet er passenderweise der Figur des Spazier-gängers im Werk des Schweizer Schrift-stellers Robert Walser. Dann wird er Leiter des Robert-Walser-Archivs in Zürich. «Aber ich hätte es etwas unproduktiv gefunden, mich ein Leben lang mit einem einzigen Künstler zu befassen.» Er wech-selt in den Journalismus: Kulturredaktor bei den «Luzerner Neusten Nachrichten», später bei der Migros-Zeitung «Brückenbauer».

1985 zieht er mit seiner Frau Irena, einer Kantilehrerin, in den Weiler Hirz-wangen bei Ebertswil im südlichen Kan-ton Zürich. Von ihrem Bauernhaus sehen sie die Berner Alpen und die Rigi, den Zugersee und die Städte Baar und Zug. Im Vordergrund fasziniert sie ein Tafelberg geringer Höhe, der von Strassen und einer Deponie umzingelt ist, doch selber unver-sehrt. Die Baarburg eben, 683 Meter über Meer. Guido Stefani liest ihre Geschichte nach. Auf ihr siedelten vor 3500 Jahren Menschen. Und später war sie wohl Sitz eines keltischen Fürsten.

So habe seine Begeisterung für die Baarburg begonnen, erzählt Guido Stefani vor dem erwähnten Unterstand. Dann platziert er seine kleine Nikon in ein paar Metern Entfernung auf dem Boden, stellt den Selbstauslöser ein, eilt zur Bank vor dem Unterstand, setzt sich. Klick. Auch das ist ein Baarburg-Ritual: Jedes Mal wird ein Selfie gemacht. Manche seiner Fotos vom Berg stellt er auf seine Website baarburg.ch. Dort ist ohnehin jeder Um-gang in sparsamen Worten protokolliert: «Beim Unterstand hat es Spuren eines Waldfests» – «Über der Landschaft hängt ein dünner Schleier Saharastaub» – «An schattigen Orten hat es noch Raureif».

Die Anzahl Besuche auf
der Baarburg hält Stefani
mit Kerben im Holz fest.


Guido Stefani hat viele Interessen. Er geht mit seiner Frau gern tanzen, am liebsten zu Drum-and-Bass-Sound. Er liebt Reggae und sah viele Reggae-Grössen wie Bob Marley live im Konzert. Auch reist das Paar gern, eben waren die beiden in Karlsruhe, dort habe es schöne Parks, «wir lieben Parks». Doch immer wieder kehrt Stefani zur Baarburg zurück, geht meist allein hinauf und manchmal mit der Frau. Dass er so ausdauernd bei jedemWetter und das ganze Jahr hindurch den Berg erkundet, was jeweils gut drei Stunden dauert, kann er erklären. «Ich will das Tagebuch eines Ortes schreiben», sagt er. Und: «Ich komme so in einen engeren Kontakt zur Natur.» Vor allem aber: «Ich will die Zeit sicht- und erfahrbar machen.»

«Ich will das Tagebuch
eines Ortes schreiben und die Zeit
sicht- und erfahrbar machen.»

Guido Stefani

Mit dem Schrecken umgehen
1999 wird Guido Stefani Protokollschreiber für den Zuger Kantonsrat. Und gerät zwei Jahre später in jenes Ereignis, das über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen macht. Der Attentäter Friedrich Leibacher betritt am 27. September 2001 während einer Ratssitzung das Parlamentsgebäude in Zug, erschiesst 14 Menschen, verletzt viele weitere, nimmt sich das Leben. Guido Stefani wird dreimal getroffen. Am Bein, am Arm, im Rücken. Ein Lungenschuss. Er verliert viel Blut, wird künst-lich beatmet. Er erzählt offen darüber. Aber auch speditiv. Er will der Sache offensichtlich nicht zu viel Macht über sein Leben zugestehen. Der einzige körperliche Schaden, den er davonträgt, ist, dass er den einen Arm nicht richtig anheben kann. Ein Trauma hingegen habe er anders als andere Überlebende nicht erlitten. «Ich ging sofort zu Boden, hörte nur Schüsse und Schreie. Ich trage keine schlimmen Bilder mit mir herum.

«Ich mache keine
Wanderungen oder
Besteigungen, sondern
Umgänge.»

Guido Stefani

«Strukturen» hinterlassen
Auch dass er seit Jahrzehnten meditiert, habe ihm bei der Bewältigung geholfen, sagt Guido Stefani, der die Protokollier-arbeit wieder aufnahm und heute längst pensioniert ist. War die erste Baarburg-Be-gehung nach dem Attentat irgendwie an-ders? Er wüsste es nicht zu sagen. Souverän hat er den Schrecken an den Rand der Erinnerungen geschoben. Anderes ist ihm wichtiger. Die Natur eben. Das in ihr sich zeigende Verstreichen der Zeit. «Sehen Sie den Nagelfluhbrocken auf dem Weg? Der war letztes Mal noch nicht da.» Auf der Baarburg ist Guido Stefani nicht nur ein Beobachter, der den unschein-barsten Wildwechsel ausmachen kann und genau weiss, wo seit kurzem junge Leute gern Party feiern. Er handelt auch. Er verändert subtil. Er hinterlässt an einigen Orten seine, wie er sie nennt, «Strukturen». Zum Beispiel hat er einen kleinen Haufen aus Steinen, Schneckenhäuschen und Ästen angelegt, den er liebevoll «Iglu» nennt. An einem anderen Ort hat er ein Geviert abgegrenzt mit einem Zwergen-hag aus Zweiglein in Knöchelhöhe. Um ein Spiel handelt es sich, das mal künst-lerisch, mal kindlich, mal magisch scheint. Überhaupt wirkt Guido Stefani, der Intellektuelle, bisweilen wie ein keltischer Schamane. Da mag auch der charismatisch getragene Stock mitwirken. Um seinen dritten handelt es sich. Den ersten sägte Stefani aus einem abgestorbenen Eibenast auf der Baarburg. Nach fünfzehn Jah-ren brach oben der Knubbel ab. Den zweiten Stock, aus Rosenholz, liess er sich in Zürich fertigen. Und als er ihn verlor, beschaffte er sich einen Nachfolger. Der Stock sei ein Sinnesorgan. Ein Fühler. «Er ist meine Verbindung zum Boden. Eine Erdung.» Zudem: «Er hilft mir durch die Brombeeren, die perfide Fangschlingen bilden.»
Guido Stefani wird die Baarburg weiterhin besuchen. Wird seine Umgänge im Notizbuch mit den metallisch verstärkten Ecken festhalten. Und wird wohl weiter-hin kleine Entdeckungen machen wie da-mals, als er Findlinge mit Ritzspuren fand, zu denen ihm der Kantonsarchäologe be-schied, sie seien nicht eindeutig menschlicher Herkunft. Sondern könnten auch Gletscherschliff sein.
Unendlich lange ist die Baarburg schon da und wird noch unendlich lang da sein. Offensichtlich ist sie grösser als der ein-zelne Mensch. Und dauerhafter. Guido Stefani wünscht sich, dass seine Asche hier oben verstreut wird, wenn er einmal tot ist. Dass er der Baarburg also noch viel näher kommt als bisher. Dass er in ihr aufgeht. ■